Das Ende der Fahnenstange ist erreicht

von David Ittekkot
Als vor kurzem die Prognose, wie viele Flüchtlinge dieses Jahr nach Deutschland kommen werden, auf das Allzeithoch von 800.000 gesetzt wurde, sah sich unser neuer Bremer Bürgermeister Carsten Sieling gezwungen zu verkünden, dass nun die Schuldenbremse für Bremen nicht mehr einzuhalten sei – zumindest nicht ohne substanzielle Hilfe des Bundes. Es würde für alle Bundesländer eng werden, aber Bremen und das Saarland seien schon jetzt in so einer schwierigen Situation, dass es völlig unmöglich für diese beiden Länder sei, mit der Zusatzbelastung besagte Schuldenbremse einzuhalten.
Konservative PolitikerInnen fanden das dreist. Da wagte doch tatsächlich jemand, an der „schwarzen Null“ zu rütteln, die Kanzlerin Merkel und vor allem ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble zur unantastbaren Staatsdoktrin erklärt haben. Und dann auch noch aus dem seit dem zweiten Weltkrieg ununterbrochen von den FinanzhasardeurInnen der SPD regierten, dauerklammen Bremen. Da mag manchem in der Union das Gebiss aus dem Gesicht gefallen sein.
Doch für jeden Menschen, der einigermaßen bei klarem Verstand ist, ist völlig klar: Carsten Sieling hat Recht. Die Schuldenbremse ist nicht einzuhalten. Sie schiebt Bremen* und, wenn man ehrlich ist, die gesamte Bundesrepublik, finanztechnisch an den Abgrund – und noch ein Stück weiter.
Doch was mir an Carsten Sielings Aussage aufstößt, ist, dass er die Verbindung zu den Flüchtlingen zieht und damit riskiert, dass Menschen von der anderen Seite des politischen Spektrums dies als Munition für ihre menschenfeindliche Propaganda nutzen – auch wenn, und davon bin ich zu 100 Prozent überzeugt, dies absolut nichts mit seiner Intention zu tun hat.
Denn eigentlich hätte die Schuldenbremse niemals beschlossen werden dürfen und schon gar nicht auf Ebene der Verfassung. Sie ist einer der größten Streiche der VertreterInnen neoliberaler Politik und das auch noch als Reaktion auf das Scheitern ihrer eigenen Politik. Sie haben es geschafft, die von ihr verursachte Finanz- und Wirtschaftskrise zu einer angeblichen Staatsschuldenkrise umzudeuten, die im Grunde auch nur daraus entstanden ist, dass das jetzige Finanz- und Wirtschaftssystem durch Staatsknete gestützt werden musste.
Und nun steht der Neoliberalismus, dank der Schuldenbremse (und dem Fiskalpakt auf EU-Ebene), kurz vor der Erreichung seines ultimativen und größten Zieles: Der Staat, sein größter Feind, steht kurz vor dem finanziellen Kollaps und mit ihm auch alle Regulierungs- und Sicherungsmechanismen, die der endgültigen Durchsetzung des Primats der Wirtschaft noch im Weg stehen.
Warum schreibe ich das alles? Und ist das nicht ein wenig düster gezeichnet?
Ich denke: Nein! Das Ende der Fahnenstange ist erreicht.
Zu sagen, die aktuell jeden Tag große Teile der Tagesschau einnehmende Flüchtlingssituation hätte nichts mit einer Zuspitzung der Staatsfinanzlage zu tun, wäre falsch. Noch viel falscher ist es aber, die große Zahl an Flüchtlingen als Ursache für diese Lage zu bezeichnen. Vielmehr lenkt das Thema nun (man möchte fast sagen: Endlich!) den Blick auf brutale Art und Weise darauf, wie sehr der Staat seit Jahren ausgeblutet wird. Und es ist nicht so, als wäre dies nie thematisiert worden: ErzieherInnen, Pflegekräfte und viele andere Menschen in sozialen Berufen werden massiv unterbezahlt, es gibt zu wenige LehrerInnen landauf und landab, die Verkehrsinfrastruktur fliegt auseinander, die Hochschulen müssen immer mehr Mittel auf dem privaten Sektor eintreiben, öffentliche Daseinsvorsorge wird privatisiert, Jugendfreizeiteinrichtungen und soziale Projekte müssen schließen. Die Liste ließe sich noch zehn Seiten weiterführen.
An den meisten staatlichen Institutionen regiert seit Jahren der Rotstift. Und wenn keine Kugelschreiber, Besen oder Glühlampen mehr gestrichen werden können, geht es immer an die Qualität oder Quantität öffentlicher Leistungen. Der Satz „Das Geld ist eben nicht da…“ ist mittlerweile schon so in meiner Wahrnehmung eingebrannt – ich kann mir kaum noch vorstellen, dass es auch mal anders sein könnte.
Doch das geht! Die Flüchtlinge könnten, neben der kulturellen und menschlichen Bereicherung, die sie der Gesellschaft bringen, noch einen politischen Segen bringen. Denn nun ist das Thema auf dem Tisch. Nun werden massiv Menschen gesucht, die im sozialen Bereich arbeiten. Und die müssen nicht nur teuer qualifiziert, sondern auch endlich gut bezahlt werden. Es werden LehrerInnen gesucht – nicht nur für Deutschkurse, sondern damit alle Kinder und Jugendlichen richtig beschult werden können.
Es braucht Geld, um den hilfsbedürftigen Menschen, deren Zahl nun deutlich gestiegen ist, zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen und ihnen Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. „Das Geld ist eben nicht da“ reicht nicht mehr.
Es war Wahnsinn, die Schuldenbremse einzuführen und gleichzeitig die Steuern nicht zu erhöhen. Und dieser Wahnsinn wird nun schonungslos offengelegt.
Da die Schuldenbremse nur noch sehr schwer abgeschafft werden kann, muss die Konsequenz heißen: Steuern hoch! Das Geld ist da. Die reichsten zehn Prozent der Deutschen sitzen auf einem unvorstellbaren Haufen Geld. Doch um dort ranzukommen, müssen Vermögen und Kapital endlich angemessen besteuert werden. Die starken Schultern müssen und können mehr tragen. Und wir als JungsozialistInnen und SozialdemokratInnen würden nebenbei endlich unserem Anspruch genügen, verdammt nochmal richtig umzuverteilen.
Wir haben viel zu lange zugeschaut und vor allem mitgemacht, als der Laden langsam aber sicher Richtung Wand fuhr. Es ist JETZT an der Zeit gegenzusteuern. Die Schwachen in unserem Staat, diejenigen, die sich um sie kümmern und der Staat selber, der diese Hilfe organisieren muss, sie alle sind in den letzten Jahren an ihre Belastungsgrenzen gekommen.
Die Flüchtlinge – also Menschen, die alles in ihrer Heimat zurückgelassen haben, um ein besseres, sichereres Leben in Deutschland zu finden – sind nicht schuld daran. Vielmehr können wir ihnen für die Chance danken, unseren Staat vor dem Kollaps zu retten.
Refugees welcome!

* welches übrigens keineswegs vor allem wegen „sozialdemokratischer Misswirtschaft“ in seiner jetzigen Lage ist. Die Tatsache, dass Steuern am Wohnort und nicht am Arbeitsort gezahlt werden, nützt vor allem Niedersachsen und nicht dem wirtschaftlich eigentlich stark aufgestellten Bremen. Und ein Werftensterben, bei dem nicht zu vernachlässigende Teile der Bevölkerung ihre Arbeit verloren haben, mussten Bundesländer wie Bayern auch nicht verkraften.

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