Eine Halbzeitbilanz unter Pandemiebedingungen – von Thomas Ehmke

Zwei Jahre Rot-Grün-Rot! Wir wollen’s wissen: Hat die Koalition das Land Bremen nur weiter verwaltet oder packt sie Probleme bei der Wurzel? Was wurde schon erreicht und was ist noch zu tun? Wir ziehen Bilanz und stellen klar, was die Koalition im Land Bremen noch liefern muss. Diese Fragen beantwortet uns hier der Chef der bremischen Senatskanzlei Thomas Ehmke.

Du willst mit uns über die Halbzeitbilanz diskutieren und eigene Ideen einbringen? Am 27.10.2021 ab 15 Uhr machen wir ein Seminar dazu im Bürgerhaus Weserterrassen! Mehr Informationen und Anmeldung via info@jusos-bremen.de!

Du willst wissen, was wir Jusos dazu sagen? Unsere Einschätzung findest du mit einem Klick auf den Button!


Es gehört zu den politischen Traditionen zur Hälfte einer Legislaturperiode den Blick zurück zu richten und Bilanz zu ziehen. Maßstab für den politischen Erfolg ist dabei zumeist der Koalitionsvertrag, das von den Parteitagen abgesegnete politische Arbeitsprogramm einer Regierung. Und so hätten wir es unter normalen Bedingungen wohl auch jetzt gemacht: abhaken, was erledigt ist; festhalten, was noch zu tun ist; streichen, was gescheitert ist. Doch das geht in dieser Halbzeit so nicht, wie gewohnt. Die Corona-Pandemie, die zu Beginn dieser Legislaturperiode nicht vorhersehbar war, hat die politische Wirklichkeit phasenweise vollständig dominiert. Wir können keine Bilanz ziehen, ohne auf die Pandemie und Krisenbewältigung zu schauen, nicht nur, weil sie die vergangenen anderthalb Jahre bestimmt hat, sondern auch, weil sie die Bedingungen für das politische Handeln der Zukunft verändert hat. Und doch ist Corona nicht alles, insofern lohnt sich durchaus auch der Blick auf den Koalitionsvertrag und seine Umsetzung. Denn auch in der Pandemie haben wir sozialdemokratischen Kurs gehalten und bereits einiges von dem, was wir uns vorgenommen hatten, abgearbeitet.

I. Bremen und die Pandemie

Die Entscheidungen und der Kurs in der Pandemie war oft nicht so sehr geprägt von der parteipolitischen Farbe einer Landesregierung. Die Frage der konkreten Betroffenheit einzelner Länder, die soziale und wirtschaftliche Struktur, die Lage in den Krankenhäusern, die Nähe zu europäischen Nachbarländern, all dies hat in der Pandemie zunächst oft stärkeren Einfluss auf die Maßnahmen gehabt, als das Parteibuch der Ministerpräsident:innen. Ohne Frage aber waren die Kompetenzen und Überzeugungsbildungen dieser Politker:innen von zentraler Bedeutung für den Kurs, den die Länder eingeschlagen haben. Die grundlegenden Werte dieser Menschen und der Regierungskoalitionen bildeten im Idealfall eine rote Linie in der Pandemiepolitik – und Bremen hat diesbezüglich mit dem Präsidenten des Senats Andreas Bovenschulte und dem rot-grün-roten Senat eine vielfach vorbildliche Aufstellung gehabt.

Bovi und der Senat haben von Anfang an einen Kurs gefahren, der weder wagemutig noch autoritär war. Bremen galt stets als vorsichtig, aber nicht als unnötig streng. Wir haben in Bremen weder als erste alles zu noch als erste alles aufgemacht. Wir haben sorgfältig abgewogen, nach intelligenten Lösungen gesucht, keine unsinnigen Freiheitsbeschränkungen – wie die Ausgangssperren – eingeführt (außer als das Bundesrecht uns zwang), wir haben eine Priorität auf Bildung und Betreuung gesetzt und stets die Kinder und Familien in den Blick genommen. Vor allem aber hat Bremen – und das unterscheidet und von vielen anderen Ländern – den Fokus vorwiegend auf Schutz und Unterstützung und nicht auf Beschränkungen und Verbote gerichtet.

Wir haben als erstes und einziges Bundesland alle Schülerinnen und Schüler und alle Lehrerinnen und Lehrer mit Ipads ausgestattet. Wir haben früh über die Apotheken an alle älteren Menschen kostenlos FFP2-Masken ausgegeben, als andere noch über den Nutzen diskutiert haben. Manche Bundesländer haben später eine FFP2-Maskenpflicht an spezifischen Orten eingeführt, ohne sich über die Versorgungs- und Finanzierungsmöglichkeiten der Menschen Gedanken zu machen, wir haben stattdessen allen Bremerinnen und Bremern diese Masken nach Hause geschickt. Wir haben früh in eine umfassende Testinfrastruktur investiert, die Schulen schon damit versorgt, als die Tests ansonsten noch schwer zu bekommen waren. Wir haben uns bundespolitisch dafür stark gemacht, die Menschen nicht nur in ihrem Privatleben zu beschränken, sondern stattdessen auch die Risiken im betrieblichen Umfeld ernst zu nehmen. Deshalb haben wir uns für Homeoffice und betriebliche Testpflicht eingesetzt und haben die echte Testpflicht am Arbeitsplatz als einziges Bundesland umgesetzt. Und wir sind beim Impfen ganz vorne. Wir haben von Anfang an darauf gesetzt mit einer starken Infrastruktur schnellstmöglichen Schutz für die Bremerinnen und Bremer zu gewährleisten und das hat funktioniert, kein Bundesland impft so schnell und so erfolgreich wie Bremen.

Der Senat hat einen Bremen-Fond mit insgesamt 1,2 Milliarden Euro für den Schutz der Bevölkerung und die Bewältigung der Pandemiefolgen aufgelegt.

II. Die rot-grün-rote Koalitionsvertragsbilanz

Als im Frühjahr 2020 Corona das Agendasetting übernahm, hatte rot-grün-rot den ersten Haushalt bereits erfolgreich unter Dach und Fach. Viele „politische Beobachter:innen“ hatten uns das gar nicht zugetraut. Zu teuer sei der Koalitionsvertrag, die Ernüchterung käme in den Haushaltsberatungen, eine Einigung sei kaum möglich. Falsch, wir haben inzwischen im Senat sogar schon den zweiten Doppelhaushalt verabschiedet. Ja, Corona hat manches verändert, aber dennoch wurde auch vieles erreicht. Stichwortartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit im Folgenden ein paar Beispiele, die aus Sicht der Jusos interessant sein könnten:

Ausbildungsfond

Ziel war die Schaffung von landesrechtlichen Grundlagen zum Start des Ausbildungsjahres 2021/2022. Hier hat Corona den Zeitplan bedauerlicherweise umgeworfen, dieses Ziel konnte leider nicht realisiert werden. Immerhin sind die Vorbereitungen für die Einrichtung der Expert:innenkommission inzwischen intern abgeschlossen, so dass diese nach einer Anhörung mit den Hauptakteuren des Ausbildungsmarktes nach der Sommerpause voraussichtlich ab Oktober ihre Arbeit wird aufnehmen können. Neues Zeitziel der gesetzlichen Verankerung eines Ausbildungsfonds ist das Ausbildungsjahr 2022/2023.

Azubiwohnheim

Das Projekt befindet sich in der Umsetzung. Ein Grundstück ist gefunden, ebenso ein Betreiber. Der Bauantrag ist in Vorbereitung, Bremen wird sich mit einer Zuwendung in Höhe von 2,4 Mio Euro an den Kosten beteiligen. Die Senatsbefassung ist noch für den August 2021 vorgesehen, die Fertigstellung soll bis 2023 erfolgen.

Ausbildung

Um für Jugendlichen vielfältige Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten und möglichst allen Schulabgänger:innen eine Ausbildung anbieten können haben wir 160 überbetriebliche Ausbildungsplätze in Bremen und Bremerhaven geschaffen.

Landesmindestlohn und Tariftreue

Wir haben den Landesmindestlohn auf 12 Euro angehoben und perspektivisch an die unteren Lohngruppen der öffentlichen Tarifverträge angeknüpft. Die Novelle des Tariftreue- und Vergabegesetzes ist in Vorbereitung, mit dieser Gesetzesänderung sollen zukünftig auch die Bauvergaben oberhalb der EU-Schwellenwerte und die Dienstleistungsvergaben in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen.

Sozialer Wohnungsbau

Bezahlbares Wohnen ist eine der größten sozialen Herausforderungen für die Städte heutzutage. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, ist Bremen deshalb aktiv geworden. Wir haben die Sozialquote für Neubauten von 20 auf 30 Prozent erhöht und die Bindungsdauer auf 30 Jahre ausgeweitet. Ein neues Wohnraumförderprogramm wurde entwickelt, die erforderlichen Mittel im Haushalt abgesichert. Jetzt heißt es bauen, bauen, bauen.

Housing First

In der ersten Jahreshälfte 2021 ist das Interessenbekundungsverfahren abgeschlossen und ein Träger ausgewählt worden. Die Deputationsbefassung für Belegrechte und Abläufe ist erfolgt. Im weiteren Jahresverlauf müssen nun geeignete Flächen bzw. Objekte identifiziert und das Projekt umgesetzt werden.

Uni- und Hochschulgebühren

Mit der Abschaffung der Langzeitstudiengebühren zum Wintersemester 2020/2021 haben wir alle Studiengebühren dauerhaft abgeschafft und als weiteren Schritt hin zu einem komplett kostenfreien Studium den Verwaltungskostenbeitrag zunächst von 62 auf 50 Euro gesenkt. Im Rahmen der Corona-Hilfen wurde darüber hinaus für Härtefälle der Verwaltungskostenbeitrag, der Beitrag zum Semesterticket und der Studentenwerksbeitrag ausgesetzt bzw. erstattet.

Kostengünstiger ÖPNV

Bremen wird seinen Zuschuss an den VBN für das Stadtticket fast verdreifachen. Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem geringen Einkommen fahren deshalb seit Januar dieses Jahres umsonst, Erwachsene zahlen nur noch 25 Euro statt fast 40 Euro. Mit diesem Doppelhaushalt hat sich die Koalition dazu bekannt, jetzt für alle Kinder und Jugendlichen, die nicht vom Stadtticket profizieren ein Jahresticket für nur noch 365 Euro im Jahr einzuführen.

ÖPNV-Ausbau

Die Bauarbeiten für die Verlängerung der Linie 1 haben am 1. Juli dieses Jahres begonnen. Bezüglich der Verlängerung der Linie 8 sind noch Gerichtsverfahren anhängig.

Fahrradverkehr

Bei den Fahrradpremiumrouten Bremen-Nord/Innenstadt/Hemelingen und beim Wallring befinden sich Teilabschnitte in der Umsetzung. Die Fahrrad-Zone in der Neustadt wurde für den Verkehr freigegeben

Klimaschutz

Die Bürgerschaft hat den Klimanotstand ausgerufen, der Senat investiert erheblich in energetische Sanierung und die Förderung klimafreundlicher Technologie, insbesondere in Wasserstoffprojekte um die industrielle Zukunft Bremen klimagerecht zu sichern. Im Haushalt werden darüber hinaus jährlich zusätzliche 30 Mio. Euro Projekt und Fördermittel für Klimaschutzmaßnahmen zur Verfügung gestellt.

Freibadeintritt 

Die SPD hat angekündigt, dass Kinder und Jugendliche für 1 Euro ins Freibad gehen können. Das haben wir umgesetzt, für Kinder & Jugendliche unter 16 Jahren und ermäßigte Gruppen liegt der Eintritt nur noch bei 1 Euro.

Schulen demokratisiert

Mit dem neuen Schulverwaltungsgesetz wurden die Schulkonferenzen als Ort der demokratischen Entscheidungsfindung gestärkt und die Einflussmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern ausgeweitet.

Progressive Drogenpolitik

Mit der Anhebung der Grenzwerte für die Einstellung von Strafverfahren beim Besitz von Cannabis zum Eigenverbrauch auf 15 Gramm haben wir den versprochenen Schritt zur Entkriminalisierung von Drogenkonsum umgesetzt. Mit der Finanzierung und Schaffung des Drogenkonsumraums haben wir einen Schutzraum für sicheres Konsumieren geschaffen und leisten zugleich einen Beitrag für die Verbesserung der Situation am Hauptbahnhof.

III. Die Herausforderungen für den Rest der Legislaturperiode

Die Frage ist nun, wie es in den kommenden zwei Jahren weitergeht. Corona ist noch nicht verschwunden, wir werden auch in den kommenden Monaten weiter mit dem Pandemiemanagement zu tun haben. Das wird für sich genommen schon eine Herausforderung, weil sich die Rahmenbedingungen inzwischen deutlich verändert, Politik und Gesellschaft sich aber an bestimmte Reaktionsmuster gewöhnt haben, die jetzt der veränderten Wirklichkeit angepasst werden müssen. Es ist Aufgabe des Staates die Versorgungssicherheit des Gesundheitswesens und den Schutz besonders gefährdeter Gruppen zu gewährleisten, es darf aber auch nicht vergessen werden, dass Freiheit und Selbstbestimmung ebenfalls sozialdemokratische Werte sind. Die Debatte über die richtigen Maßnahmen und notwendigen Beschlüsse werden den Senat sicher noch fordern.

Aber ganz unabhängig von den Debatten über erforderliche oder nicht mehr erforderliche Maßnahmen hat die Pandemie und haben die Bekämpfungsmaßnahmen tiefe ökonomische und soziale Spuren hinterlassen, die wir zum Teil in ihrer ganzen Dimension noch gar nicht erkennen. Aber klar ist, dass monatelange Schul- und Kitaschließungen bzw. Einschränkungen verheerenden Einfluss auf die Bildungsbiographie insbesondere von Schüler:innen haben werden, die ohnehin schon die schlechteren Startbedingungen haben. Aber auch für viele Frauen hat die Pandemie einen Rückschlag in puncto Gleichstellung bedeutet. Alle Erhebungen deuten darauf hin, dass Kinderbetreuung, Homeschooling und Pflege von Angehörigen vor allem auf den Schultern der Frauen lastet. Auf dem Arbeitsmarkt ist es – so wie es jetzt aussieht – gelungen, mit Kurzarbeitergeld und Wirtschaftshilfen viele Arbeitsplätze im Bereich der Produktivwirtschaft zu retten. Schlechter sieht es vielfach im Bereich der Dienstleistungsberufe und vor allem der Minijobs aus, auch dies wirkt sich stärker auf Frauen als auf Männer aus. Viele soziale Projekte, viele Selbsthilfegruppen, Sport-, Kultur-, Vereins- und Beratungsangebote sind in der Pandemie zum Erliegen gekommen oder waren nur noch eingeschränkt erreichbar, was soziale Problemlagen und individuelle Krisen vielfach noch verschärft hat.-. Und während der Staat gerade jetzt in besonderer Weise gefordert ist, sind die Steuereinnahmen infolge der ökonomischen Folgen der Pandemie drastisch rückläufig und gleichzeitig kommen aufgrund der notwendigen Verschuldung kurzfristig weitere Tilgungsverpflichtungen auf die öffentlichen Haushalte zu, die unsere Handlungsspielräume in den kommenden Jahren insgesamt stark beschränken werden. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, die Prioritäten auf gerechte Bildungschancen, eine beschäftigungsorientierte Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik und eine ökologische Transformationspolitik zu legen, die technologische Innovation und Klimaschutz intelligent verbindet und den Wissenschafts- und Industriestandort Bremen weiter profiliert. Der Koalitionsvertrag und die darin enthaltenen noch offenen Projekte sind eine Grundlage für ein weiteres politisches Vorgehen in diesem Sinne, die politische Debatte wird aber darüber hinausgehen – ich freue mich darauf, diese Debatte mit den Jusos zu führen.

Mit solidarischen Grüßen

Thomas Ehmke
Chef der Senatskanzlei

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